Ich sitze am Schreibtisch und kann mich heute zu gar nichts motivieren. Mein ganzes Leben fühlt sich gerade unendlich zäh an. So richtig BLAAAAHHHH! Im Nebenraum wird laut gebohrt – neue Leitungen werden verlegt – das ganze Stockwerk ist voll mit Bauschutt. Ich finde es schön, dass unser Haus umgebaut wird, damit bald meine Schwester und meine Nichte einziehen können. Doch für den Moment ist mir der ganze Lärm und Staub einfach zu viel.
Die Hoffnung, die zu Jahresbeginn da war, ist geschmolzen, wie ein Schneemann in der Sonne. Es ist nichts mehr davon übrig, außer ein paar Kohlenstückchen und eine Karotte. Die Aussicht auf eine schöne Zukunft schiebt sich mit jedem Tag wieder ein Stück weiter weg von mir. Ich bin ein sehr geduldiger Mensch und habe einen langen Atem, wenn es darum geht, auf etwas hinzuarbeiten. Doch auch mir dauert jetzt alles schon zu lange. Die Corona-Geschichte, die Baustelle im Haus, die sich fast genauso lange hinzieht wie Corona. Der kalte und dunkle Winter. Die ungewisse Zukunft. Die Fersenschmerzen, die mich seit Monaten daran hindern, längere Spaziergänge zu machen. Das Ödem am Schlüsselbein, das meine Bewegung einschränkt. Ich vermisse es, mich im Café mit meinen Freundinnen zu treffen, wieder ganz unbeschwert zu plaudern und Spaß zu haben.
Wo ist es, das schöne, wilde Leben? Nicht hier! Nicht hier am Schreibtisch und nicht im Wohnzimmer. Auch nicht in der Stadt, die ich so liebe. Eigentlich nirgendwo auf der Welt. Sehnsucht taucht auf, tief aus meinem Inneren. Eine riesengroße, intensive, schmerzende Sehnsucht nach Freiheit und Leichtigkeit und Wärme und ganz viel Lachen und bunten Farben. Sie lässt sich nicht mehr vertreiben, nicht mehr wegdrücken, wegschieben oder überdecken.
Es ist höchste Zeit, meiner Sehnsucht zu begegnen!
Ich klappe den Laptop zu, schließe die Augen und lasse mich so richtig hineinfallen in dieses Gefühl der Sehnsucht. Es tut weh! Ich atme in sie hinein, gebe ihr Raum und lasse sie da sein in ihrer gesamten Größe. Ich verbinde mich mit ihr, rede mit ihr. Was wünscht sie sich? Sie möchte gefühlt werden. Möchte gesehen, gehört und wertgeschätzt werden. Sie möchte Raum bekommen und nicht mehr länger weggesperrt werden – meine Sehnsucht möchte erlöst werden. Erlösung findet sie jedoch nur, wenn ich sie wieder frei lasse. Gemeinsam mit der Hoffnung habe ich sie vergraben, nun erkenne ich, wie wichtig sie ist. Sie zeigt mir den Weg hinaus aus der Frustration, hinein in die Freude.
Unsere Sehnsucht treibt uns nach vorne. Sie hilft uns dabei, Ziele zu setzen und darauf hinzugehen. Sie motiviert uns, alte und eingefahrene Trampelpfade zu verlassen und Neues auszuprobieren. Sie stellt uns auf eine metaphorische Klippe und zusammen mit ihren Geschwistern Mut, Vertrauen und Zuversicht lässt sie uns springen. Mitten hinein in den Augenblick, mitten hinein ins bunte Leben.
Ich öffne meine Augen und blicke mich im Raum um. Die Sonne hat sich einen Weg durch den Wolkenhimmel gebahnt und strahlt durch mein Dachflächenfenster. Das BLAAAAH-Gefühl ist weg, obwohl alles noch genau so ist wie vorher. Doch in mir drinnen hat sich etwas verändert. Ich fühle mich viel lebendiger, wieder voller Optimismus und Vorfreude auf das, was kommt. Ich werde jetzt meinen Anorak anziehen, die Mütze aufsetzen und in die Natur hinausstapfen. Tief die frische Luft einatmen. Genau hinhören, ob die Vögel schon zwitschern und das Blau des Himmels bewundern. Die Natur genießen und erkennen, was alles gut ist in meinem Leben. Der Frühling ist schon in Anmarsch und es wird nicht mehr lange dauern bis die ersten Knospen aufbrechen. Die Veränderung – sowohl in der Natur als auch sonst – lässt sich nicht mehr aufhalten. Ich muss nur genau hinsehen, noch ein kleines bisschen mehr Geduld aufbringen.
Ich habe die Sehnsucht aus ihrem Gefängnis erlöst. Sie tut nicht mehr weh und lässt mich nicht mehr schwer und unzufrieden sein. Denn jetzt ist meine Sehnsucht zu einer großen, fluffigen, rosaroten Wolke geworden, die mir zulächelt und einen Strahl Konfetti auf mich niederregnen lässt. Sie zeigt mir, in welche Richtung ich gehen soll – dorthin, wo schöne Dinge auf mich warten. Ich möchte meine Sehnsucht nicht missen. Solange ich Sehnsucht fühle, weiß ich, dass ich lebendig bin, dass das Leben weitergeht und noch viel mehr bereithält, als ich zu wagen denke. Freude und Buntheit und Großartigkeit. Meine Hoffnung ist wieder zurückgekehrt, gemeinsam mit der Gewissheit, dass alles gut ist.