Abschied von der Jogginghose

Mein Wecker zeigt 5:45 Uhr an, und die Morgendämmerung blinzelt schon vielversprechend durch das Schlafzimmerfenster. Ich mache kurz ein paar Beinübungen, um meinen Kreislauf in Schwung zu bringen und steige noch etwas schläfrig aus dem Bett. Schnell streife ich meine Sportklamotten über, versorge die Katze und die drei Zwergkaninchen mit Futter, putze meine Zähne und trinke ein großes Glas Wasser. Und schon geht es hinaus in die Natur. Es ist noch richtig frisch draußen, doch ich lasse mich nicht abhalten von meinem Vorhaben, den Berg hinauf zuwandern und atme tief die klare Morgenluft ein. Als ich den Waldweg verlasse und freie Sicht auf die rundum liegenden Hügel habe, werde ich mit einem wunderschönen Sonnenaufgang belohnt, der den Himmel rosa und violett einfärbt. Ich bleibe stehen, breite meine Arme aus und richte meine Stimme gegen den Himmel „Guten Morgen neuer Tag, ich bin bereit für dich! Überrasche mich, zeige mir deine Magie!“ Dann schnaufe ich weiter den Berg hinauf. Als ich nach meiner Fitnessrunde um kurz vor sieben Uhr nach Hause komme, bin ich voller Elan und Tatkraft. Ich nehme eine heiße Dusche, mache mir eine Tasse Kaffee und setze mich an den Schreibtisch. Was gibt es heute alles zu tun, was zu erledigen? Fröhlich mache ich mich an mein Tagwerk. Der Blues der letzten Monate ist vorbei – ENDLICH 😊!

Die Krise des vergangenen Jahres hat so gut wie jeden Menschen auf dieser Welt in irgendeiner Weise betroffen. Die einen wurden ordentlich durchgeschüttelt, andere nur ein bisschen aus ihrer Bequemlichkeit gerissen. Verändert hat sie uns alle, diese Pandemie der Angst, und für viele ist es noch nicht vorbei. Doch was auch immer sich auf der Weltenbühne präsentiert, ich konzentriere mich wieder auf mein eigenes Leben.  

In den letzten Monaten habe ich erkannt, wo bei mir Dinge nicht im Lot sind, die jedoch nur ich selbst verändern kann. Auch, in welchen Bereichen ich noch nicht ganz die Verantwortung übernommen, und wo ich falsch abgebogen oder einen Umweg gemacht habe. Mir ist klar geworden, dass ein Leben in der Jogginghose zwar bequem ist, aber mit der Zeit unglaublich langweilig. Und damit meine ich nicht nur das Kleidungsstück, sondern auch die „metaphorische Jogginghose“, die für mich ein durchschnittliches, lauwarmes, eigentlich-ist-alles-ok-aber-ich-bin-irgendwie-unzufrieden Leben repräsentiert. Ein Leben, in dem man nicht mehr viel erwartet, vor allem von sich selbst. Doch für den Durchschnitt bin ich nicht gemacht, und mein Leben ist noch lange nicht vorbei!  

Ich bin mir noch bewusster als früher, was mir wirklich, wirklich wichtig ist, und worauf ich verzichten kann. Ich habe die dunkle Zeit dazu genutzt, meine Gedanken zu sortieren und mit Gefühlen umzugehen, die tief aus meinem Unbewussten hochgeschwappt sind. Dieses Jahr habe ich meinen inneren Frühjahrsputz gründlich gemacht. Und auch meine Wohnung ist so sauber wie noch nie. Jetzt fühle ich mich wieder frei und kraftvoll. Ich kehre als Kapitänin auf mein Schiff zurück, setzte die Segel und fahre los, ohne viel nachzudenken. Im Gegensatz zu früher mache ich keine großen Pläne mehr, sowohl beruflich als auch privat. Oft habe ich in der Vergangenheit so sehr auf ein bestimmtes Ziel hingearbeitet, dass ich dadurch wertvolle Chancen übersehen und versäumt habe. Nun vertraue ich darauf, dass das, was mir begegnet und sich mir zeigt, für mich gemacht und bestimmt ist. Ich höre auf, bestimmte Dinge kontrollieren zu wollen, lasse mich ganz ein auf das Leben. Überraschungen inklusive!

Weg also mit der Jogginghose! Es gibt so viele andere Kleidungsstücke, die wesentlich hübscher sind und in denen wir uns richtig und gut fühlen können. Es gibt so viele unterschiedliche Möglichkeiten, uns selbst zu verändern, unser Leben anders zu gestalten, die Karten ganz neu zu mischen. Wichtig ist nur, dass wir einen Sinn in unserem Leben sehen, und dass wir Freude an unserem Sein und Tun haben. Vor allem Freude daran, jeden wunderbaren Moment in dieser spannenden Zeit voll auszukosten.